„Kein Respekt vor niemandem, und schon gar nicht vor Autoritäten“

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Dr. Alexander Braun im Interview

Lieber Herr Braun, viele Ihrer früheren Ausstellungen und Buchprojekte haben sich mit kulturellen Epochen beschäftigt, in denen Comics zu den beherrschenden Popkulturmedien zählten, vor allem die Zeit der frühen Zeitungscomics wie den Katzenjammer Kids, in denen Comics eine Verbreitung hatten, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Der dazu 2023 entstandene Band (avant-verlag) ist geradezu epochal, nicht zuletzt, weil Sie beweisen, warum der Comic ein so wichtiges und im frühen 20. Jahrhundert völlig singuläres Medium gewesen ist. Mit ihrer neuen Schau machen Sie nun den Sprung zu dem Medium, das in den 1950ern den Comics den Rang abgelaufen hat: Fernsehen … Sehen Sie hier eine Verbindung?

Zweifellos. Populäre Medien arbeiten immer mit Schauwerten. Das ist der Zucker, der die Massen anzieht. Als Erstes war da der Comic, der das so gut konnte wie kein anderes Medium: groß in den Zeitungen und in Farbe. Dann kam der Film. Dann Hörfunk und Fernsehen. Schließlich das Internet. Aber immer sind die in Frage gestellten, früheren Medien geblieben. Sie sind vielleicht geschrumpft in ihrer Bedeutung, aber sie sind nicht vollständig verdrängt worden, sondern haben ihre spezifische Qualität behaupten können, so auch der Comic. Der Schlüssel zum Erfolg aller dieser Medien ist zugleich ihr größtes Handicap: ihre Popularität! Unsere Kulturrezeption unterstellt immer noch, dass das, was vielen gefällt, automatisch von minderer Qualität sein muss. Das ist grundfalsch.

In der Einleitung zu Ihrem Simpsons-Buch versuchen Sie ein Gefühl, dafür zu vermitteln, wie absurd lange die Simpsons schon in unserem kollektiven Popkulturkonsum leben: 35 Jahre, vom Mauerfall, dem Aufkommen des Internets, 9/11, mehreren Kriegen im Nahen Osten, Obama, Trump, COVID bis heute … Wann traten den Bart, Homer & Co. in Ihr Leben? Waren Sie von Anfang an Fan?

Ich würde mich nicht als Fan bezeichnen. Kuratoren machen ständig in Museen Ausstellungen über verschiedene Künstler*innen … sind aber deswegen nicht zwingend ihre »Fans«. Man muss das schätzen, über das man erzählt, das ist wichtig. Die Simpsons haben eine große Qualität, über die es lohnt, sich Gedanken zu machen. Ich selbst habe in den 1990ern einige Staffeln regelmäßig und halbwegs komplett geschaut, danach nur noch sporadisch, weil das Leben einfach andere Prioritäten setzte. Aber ja: Die Mischung aus subversivem Humor und beißender Gesellschaftskritik bei den Simpsons war außergewöhnlich und hat dem Fernsehen völlig neue, unkonventionelle Optionen eröffnet.

Wie würden Sie jemandem, der 1989 ins Koma gefallen ist und erst heute aufgewacht ist, das Phänomen Simpsons erklären und warum genau diese Animationsserie so den Zeitgeist getroffen und sich in die Annalen der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben hat? Was ist das Geheimnis des überirdischen Simpsons-Erfolges?

Wie so häufig im Leben – und in der Kultur – spielte der Zufall eine große Rolle. Als der neue Fernsehsender FOX Mitte der 1980er gegründet wurde, brauchte er dringend ein Programm und hatte nichts zu verlieren: Das verschafft Freiräume. James L. Brooks war ein mega-erfolgreicher und dreifach Oscar-gekrönter Hollywood-Regisseur und -Produzent, der einen Narren an Matt Groenings depressiven Cartoon-Strips Life in Hell gefressen hatte und sich kleine Animations-Clips für die Tracey Ullman Show wünschte, die er gerade für FOX zu produzieren begann. Groening war geschmeichelt, wollte seine Figuren aber lieber ganz für sich behalten und erfand auf die Schnelle einfach neue: Die Simpsons! Die Kurz-Clips waren ein Erfolg und Brooks fragte FOX 1988/89 nach 13 Millionen Dollar, um eine eigene Simpsons-Serie zu kreieren. Eine irre Menge Geld, die FOX bei Misserfolg in den Konkurs hätte treiben können. Allen stand der Angstschweiß auf der Stirn. Seit 1966, seit dem Ende der Flintstones, hatte es keine Animation für Erwachsene zur Primetime mehr gegeben. Zudem verlangte Brooks von FOX absolute künstlerische Freiheit ohne Wenn und Aber, ohne jede Kontrolle durch den Sender. Und dann verpflichtete er ein Dutzend junger Drehbuchautoren ganz am Anfang ihrer Karrieren. Auch sie hatten nichts zu verlieren und durften jetzt eine Art von Fernsehen machen, die nicht dem entsprach, was üblich war, sondern dem, was sie gerne selbst gesehen hätten. Das war ein Alles-oder-Nichts-Spiel, Erfolg oder Katastrophe. Ein Jahr später waren Brooks, Groening und Co. Millionäre und FOX schoss in der Wahrnehmung auf Augenhöhe mit den drei großen Networks CBS, NBC und ABC.

Wir feiern in 2024 nicht nur 35 Jahre THE SIMPSONS, sondern auch 70 Jahre Matt Groening (sein Geburtstag war am 15. Februar). In ihrem Buch spüren sie der Lebensgeschichte Groenings nach, dem Genie hinter den SIMPSONS. Groening hatte in den 1980ern erste Erfolge mit den Comicstrips LIFE IS HELL, bevor er in die Animationsbranche wechselte und die Simpsons konzipierte. Was ist für Sie das Besondere an Groening als Autor und Zeichner?

LIFE IN HELL war und blieb Groenings Kind, zu hundert Prozent: Gags und Zeichnungen stammen ausschließlich von ihm. Und er hielt Life in Hell neben den Simpsons all die Jahre über die Treue: eine Comic-Strip-Folge pro Woche von 1977 bis 2012. DIE SIMPSONs sind dagegen etwas völlig anderes. DIE SIMPSONS sind das Produkt eines Kollektivs: Über 20 Drehbuchautor*innen zur selben Zeit im Dienst der Simpsons und die Zeichenarbeit wird in Hollywood und Südkorea erledigt. Groening hat das zwar geschaffen, aber nicht selbst ausformuliert. Das war Teamarbeit, wobei vor allem Brooks und Sam Simon zu nennen sind. Groenings größtes Verdienst ist, dass er immer dabeigeblieben ist, alle Produktionsstufen begleitet hat und stets sein Veto eingelegt hat, wenn die Simpsons zu brav und stromlinienförmig zu werden drohten. Groening ist für den Enfant-terrible-Aspekt verantwortlich. Er hat die SIMPSONS subversiv gehalten. Groenings Motto blieb die Richtschnur: Kein Respekt vor niemandem, und schon gar nicht vor Autoritäten, egal ob aus Politik, Kirche oder Gesellschaft.

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Denken Sie nicht, dass das viele Merchandise, die vielen Konsumprodukte, die mit den Simpsons werben, diese Suberversion gefährlich aushöhlen?

Wir dürfen nie vergessen, dass es sich bei den Simpsons von Beginn an um ein Multi-Millionen-Dollar-Produkt handelte. Viele Leute haben sich drangehängt und versuchen bis heute, ihr Schäfchen ins Trockene zu holen. Aber: Ich würde sagen, es gibt dummes Merchandise, indem man einfach nur eine Figur auf ein Produkt draufklebt, und es gibt kluges Merchandise, das den ironischen Geist der Serie zu atmen versucht. Bei den Simpsons ist es ziemlich oft gelungen, hochwertige und geistreiche Produkte am Markt zu platzieren. Und dann passieren auch manchmal solche Geschichten: 1993 wollte die Donut-Kette Winchell’s ihr 45-jähriges Firmenjubiläum mit Homer Simpson als Werbeträger feiern. Matt Groening war einverstanden und hat ihnen eine Illustration mit Homer, der aus einem Donat schaut, zeichnen lassen und für die Sprechblase – eher im Scherz als ernst – den Slogan vorgeschlagen: »Donuts made me what I am today«. Das ist doch zum Schießen! Ein übergewichtiger, grenzdebiler, stinkend fauler, Duff-Bier trinkender gelber Mann sagt, Donuts hätten ihn zu dem gemacht, was er heute ist. Also: dick und dumm. Winchell’s war begeistert, feierte mit dem Slogan sein Jubiläum und druckt es tausendfach auf ihre Becher und Tassen etc. Besser geht’s nicht – ganz im Sinne der Simpsons!

Das Interview wurde mit freundlicher Genehmigung der Stadt Dortmund veröffentlicht.

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